Medienberichte

Von der Frau zum Mann

„Mit 69 durfte ich mein wahres Geschlecht leben!“

Mutig! Mit fast 70 Jahren wurde aus Hermine endlich Ulf

Villach – Ulf Reisinger hat in einem Monat seinen 70. Geburtstag. Das allein wäre nun schon ein Grund zu Feiern, doch in diesem Fall wird der Runde ganz besonders, war Ulf bis vor einem Jahr doch noch Hermine. Mit uns hat der Villacher über seine unglaubliche Lebensgeschichte gesprochen, die man wohl zwischen Krimi und Tragödie ansiedeln könnte, und die trotz allem ein Happy End hat.

von Christine Jeremias11 Minuten Lesezeit (1342 Wörter)Reportage

Auf seinen Geburtstag nächsten Monat freut sich Ulf Reisinger auf jeden Fall, obwohl er eigentlich Anfang September schon in Festtagsstimmung war. „Am dritten September 2020 wurde ich offiziell zum Mann – aus Hermine wurde Ulf. Damit ist mein Lebenstraum in Erfüllung gegangen und das Datum ist mein zweiter Geburtstag“, verrät der Wahl-Villacher.

Im falschen Körper geboren

Dass er seine wahre geschlechtliche Identität je ausleben könnte, hätte Reisinger bis vor zwei Jahren nicht mehr geglaubt. Dabei spürte er schon als Kind, dass er im falschen Körper zur Welt gekommen war. „Ich wusste schon mit fünf Jahren, dass ich kein Mädchen bin. Die Erwachsenen haben immer gesagt, dass an mir ein Bub verloren gegangen ist, ohne zu wissen, wie recht sie damit hatten. In den 1950er-Jahren war es natürlich noch völlig undenkbar, dass man sich mit dem von Geburt an zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren kann. Ich habe mich aber immer wie ein Bub
benommen und auch nie mit Mädchen gespielt“, blickt Reisinger zurück. Das Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, war jedoch nicht die einzige Bürde, die Reisinger zu tragen hatte.

Pflegefamilie, Missbrauch, Heime

Denn die Lebensgeschichte von Ulf Reisinger ist so erschütternd und voller schmerzlicher Erfahrungen, dass man sich als Zuhörer fragt, woher der sympathische Mann die Kraft nimmt, so positiv und offen über seinen Weg zu sprechen. Mit sieben Monaten kam Reisinger – in Linz als Hermine geboren – zu einer Pflegefamilie nach Oberneukirchen i. Mühlviertel und musste dort sexuelle sowie körperliche Gewalt erfahren. Als 13-Jährige wurde sie schwanger und eine Abtreibung an ihr vollzogen, mit sechzehn fand sie den Mut, den Pflegevater anzuzeigen und kam bis zum Prozess in ein katholisches Erziehungsheim. Doch statt endlich Sicherheit und Schutz zu finden, musste sie auch hier Schlimmes erfahren und war „völlig alleingelassen und ausgeliefert“. Der Prozess selbst verlief im Sand, ihre Pflegeeltern kamen ungestraft davon, Hermine wurde in dem schwersten Erziehungsheim für Jugendliche in Tirol untergebracht. „Meine Jahre dort waren geprägt von Strafen und brutalen Erziehungsmaßnahmen. Ich wurde als zu burschikos angesehen und
verbrachte wegen meiner aufsässigen Art viel Zeit in Einzelhaft. Solche Erfahrungen prägen fürs Leben – ich bin zum Gerechtigkeitsfanatiker geworden“, schildert Reisinger die harte Jugend.

Künstlerische Begabung

Mit neunzehn wurde Reisinger schließlich entlassen, mit 1400 Schilling in der Tasche und ohne Vision für die Zukunft. Die Direktorin des Heims hätte sie gern zur Erzieherin ausbilden lassen, doch Reisinger verweigerte dies. Eine ihrer Betreuerinnen hatte jedoch ihr künstlerisches Potential erkannt und so kam die junge Frau über Umwege zur Hinterglasmalerei. Drei Jahre lang machte sie Anlehre in diesem alten Kunsthandwerk. Doch längst war nicht alles gut, zu tiefe Wunden hatten Kindheit und Jugend hinterlassen, als dass Reisinger nun einfach ein „normales“ Leben hätte beginnen können.

Auf der Suche nach Freiheit

„Mit Anfang zwanzig wollte ich endlich vieles nachholen. Ich wollte frei sein und leben und suchte das Abenteuer beim Autostoppen. Zuerst war ich mit meiner Freundin unterwegs, später alleine. Ich machte also genau das, wovor immer gewarnt wurde. Und traf auf einen Fernfahrer, der es nicht gut mit mir meinte. Mit 23 Jahren brachte ich meine Tochter zur Welt – ein Vergewaltigungskind“, musste Reisinger ein weiteres Trauma verkraften. Vier Monate gab die junge Mutter ihr Bestes, um sich gut um ihr Kind zu kümmern, bis ihre Chefin war der Ansicht war, die Arbeit würde zu sehr darunter leiden. „Meine Tochter wurde mir von der Fürsorge weggenommen und ohne mein Einverständnis zur Adoption freigegeben“, so Reisinger.

Absturz mit Drogen und Alkohol

Ein weiterer Schicksalsschlag, der zu viel war für die junge Frau, mit der es das Leben einfach nicht gut zu meinen schien. „Ich bin schließlich ins Milieu abgerutscht, habe als Prostituierte unter dem Pseudonym Karin in ganz Österreich gearbeitet, wurde drogen- und alkoholabhängig. Da war immer eine gewisse Todessehnsucht in mir, nicht nur wegen meines seelischen Ballasts, sondern auch deswegen, weil ich mich nie ganz leben konnte“, erzählt Ulf Reisinger. Die Zeit in der Unterwelt war aber dennoch eine Möglichkeit, die Männlichkeit offen zur Schau zu tragen. „Ich habe immer mit
Frauen zusammengelebt, bin keiner Rauferei ausgewichen und habe meine Mädels beschützt. Das hat mir im Milieu irgendwann den Spitznamen „der eiserne Karl“ eingebracht“, schildert der Villacher.

Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer

Irgendwann kam Reisinger schließlich doch an den Punkt, an dem sie ihre Leben ändern wollte. 1993 machte sie einen erfolgreichen Entzug und ist seitdem clean und trocken. „Der Lockdown im letzten Jahr hat mich allerdings schwer getroffen, die Einsamkeit und die Isolation haben mir sehr zugesetzt. Da sind alte Gefühle aus meiner Zeit im Heim hochgekommen und zwei Wochen lang stand ich an der Kippe zu einem Rückfall.“ Doch Reisinger blieb stark – wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil sich doch noch viel Positives in seinem Leben ereignet hat. So gründete der Villacher 1994 eine Selbsthilfegruppe für sexuelle Gewaltopfer und kämpft seitdem aktiv für den Kinderschutz. „Es ist für mich zur Berufung geworden, anderen zu helfen. Ich konnte sogar noch zwei Kinder aus meiner alten Pflegefamilie befreien“, so Reisinger. 2010 bekam der heute 70jährige eine Entschädigung von Kirche und Staat für die Zeit in den Erziehungsheimen und auf dem Pflegeplatz. Eine späte Genugtuung, die zwar nichts wieder gut machen konnte, aber immerhin eine Anerkennung war. Ein weiterer Meilenstein in der Aufarbeitung der erlebten Traumata war 2010 die Veröffentlichung des Buches „Tote Kinderseele – Mein Weg zurück ins Leben.“ Reisingers unermüdliche Präventions- und Aufklärungsarbeit gegen sexuelle Gewalt ist seit 2019 übrigens an der Kepler-Universität Linz im sogenannten „Reisinger-Archiv“ öffentlich zugänglich.

Wiedersehen nach zwanzig Jahren

Und auch privat gab es einen großen Lichtblick: Reisinger konnte die zur Adoption freigegebene Tochter ausfindig machen. „Weihnachten 1994 hielt ich das erste Foto von ihr in der Hand, im Sommer 1995 haben wir uns persönlich getroffen. Ich habe in ihrem Gesicht nach dem Baby von damals gesucht, davon war jedoch nichts mehr zu erkennen. Trotzdem war es ein wunderschöner Moment – ich hätte mir nie träumen zu lassen, meine Tochter je wiederzusehen. 2004 habe ich sogar ihre Adoptiveltern kennengelernt und seitdem sind wie so etwas wie eine Patchworkfamilie“, schildert Reisinger eine der positivsten Wendungen in seinem bewegten Leben. Beruflich wandte sich Reisinger wieder mehr und mehr der Kunst zu, absolvierte mit 45 Jahren die Ausbildung zum Glaskünstler mit Unternehmensprüfung und kann mittlerweile auf zahlreiche Ausstellungen zurückblicken.

Der lange Weg zum Mann

Einziger Wermutstropfen blieb bei allen den positiven Erfahrungen dennoch das Gefühl, mit dem falschen Geschlecht leben zu müssen. „Eigentlich hatte ich schon damit abgeschlossen, diese Welt als Frau zu verlassen, doch ein Zufall hat Edith Walzl vom Verein INSIEME in mein Leben gebracht. Frau Walzl wurde auf ein Facebookposting von mir aufmerksam und hat mich angeschrieben, dass sie Menschen auf ihrem Weg zur wahren Geschlechtsidentität begleitet“, erzählt Ulf Reisinger vom entscheidenden Wendepunkt. Durch die Beratung und Unterstützung von Edith Walzl wurde aus Hermine Schritt für Schritt Ulf. „Ich bin unendlich dankbar, eine so tolle Hilfe während des ganzen Prozesses gehabt zu haben. Edith war immer für mich da – von der Terminvereinbarung für das psychiatrische Gutachten über die Hormoneinstellung bis hin zur Masektomie-OP, also der Entfernung der Brüste. Ohne INSIEME wäre ich heute noch eine Frau“, zieht Reisinger Bilanz über den langen Weg zum Mann. Heute ist der Künstler rundum glücklich: „Ich bin völlig ausgesöhnt mit meinem Schicksal und habe meinen Frieden gefunden. Dass ich endlich Ulf sein darf, ist das schönste Geschenk, das ich mir selbst machen konnte. Ich kann allen Betroffenen nur raten, zu dem zu stehen, wie man sich fühlt, auch wenn es oft mit schmerzlichen Erfahrungen verbunden ist. Aber wenn man sich jemanden anvertrauen kann und Unterstützung findet – wie ich durch Edith Walzl – kann man auch die größten Hürden überwinden“, möchte Ulf anderen Mut machen.

Veröffentlicht am 06.10.2021, 17:44

Artikel-UPDATE am 06.10.2021, 18:55
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